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Was für ein Stoff:  ein Roman über Rentiere und mehr 

Ann-Helén Læstadius: Das Leuchten der Rentiere. Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2022. 447 Seiten, 25,00 Euro.

In den folgenden Zeilen will ich auf ein Buch aufmerksam machen, doch das geht am besten erst nach zwei Bemerkungen vorab. Die eine sagt, dass ich zwar schon viele Buchbesprechungen geschrieben habe, auch für den „dialog“ der DNG. Doch darunter war, wenn ich nicht irre, nie eine Besprechung (auf Norwegisch heißt das übrigens „anmeldelse“) zu einem Roman.

Weshalb nicht? Nun, das ist nicht so mein Metier. Ich halte mich berufsbedingt viel eher an Sach- und Fachbücher. Zweitens habe ich den Roman, um den es hier geht, noch nicht zu Ende gelesen. Viele seiner rund 450 Seiten liegen noch vor mir.

Trotz dieser Einschränkungen möchte ich (und das gern) hinweisen auf „Das Leuchten der Rentiere“ von Ann-Helén Læstadius. Die Autorin, Jahrgang 1971, ist gebürtige Sámi, lebt freilich mit ihrer Familie in Solna bei Stockholm. Dort arbeitet sie als Journalistin und Autorin. Nach etlichen, oft prämierten Kinder- und Jugendbüchern ist dies ihr erster Roman, im Original trägt er den Titel „Stöld“ (für Diebstahl, darin mag unser Wort „stehlen“ stecken).

Diese Werk, in Jahren erarbeitet, wurde rasch ein großer Erfolg und in Schweden 2021 bei Bonniers Bokklubbar sogar als Årets bok, als Buch des Jahres, ausgezeichnet. Zur Begründung hieß es: „Packend und bewegend bis zur letzten Seite. Ein einzigartiger Roman über die Schönheit der Natur und die Verletzlichkeit der Menschen.“

Gut, dass schon jetzt die Übersetzung ins Deutsche vorliegt. Maike Barth und Dagmar Mißfeldt haben das für den Verlag Hoffmann und Campe geschafft. Soweit ich dies beurteilen kann, da ich weder das Original kenne noch Schwedisch beherrsche, ist Ihnen eine glänzende Arbeit gelungen. Ihre Übertragung liest sich äußerst gut und flüssig, sie geht sehr nahe, ist offenbar authentisch auch wegen der oft genutzten Alltagssprache. Es wird klar, wie die Sámi denken und fühlen, was sie bewegt, wie sie sich mitteilen – und auch, was sie für sich behalten.

Die schwedische Zeitung „Expressen“ zeigte sich (übersetzt) mit diesen Worten beeindruckt: „Eine Geschichte, die erzählt werden musste. Und wie sie erzählt wird: in einer unvergesslich wunderschönen Sprache.“

Nun zum Kern des Bandes. Im Mittelpunkt steht die neunjährige Sámi Elsa. Sie muss erleben, wie ihr Rentier, Nástegallu mit Namen, getötet wird. Und sie bekommt mit, dass der Täter ihr noch am Tatort ein Zeichen gibt. Ihrer Familie will sie dazu nichts Näheres sagen, auch nicht der Polizei. So hat die kaum Chancen, etwas zu unternehmen und die Sache aufzuklären.

Wie so viele Tiere zuvor gilt auch Nástegallu als gestohlen. Erst als die Sache noch ernster wird, ist Elsa stark genug, sich ihrer lange unterdrückten Schuld, ihrer Angst und Wut zu stellen. „Aber wird sie etwas ausrichten können gegen die Gleichgültigkeit der Behörden, die Brutalität der Täter und nicht zuletzt die Missbilligung der traditionell denkenden Sámi, für die das alles keinesfalls Frauensache ist?“ lese ich dazu schon mal in einem Text – doch soweit bin ich auf den entsprechenden Seiten noch nicht.

Das Buch enthält ein Glossar mit samischen Vokabeln wie Áddjá (für Großvater), Nuvttahat (Schuhe aus Rentierleder) und Vaja (kleine Rentierkuh). Das hilft, dergleichen Begriffe zu verstehen. Nur gibt es für die 86 Kapitelüberschriften von Okta über Golbmalogiovcci bis Gávcclogiguhtta leider keine Übersetzung. Sie bleiben rätselhaft.

Hier noch Auszüge aus drei deutschen Eindrücken zu Læstadius‘ Buch: „An diesem grandiosen Buch kommt niemand vorbei, der sich für die Kultur der Sámi und die Tierwelt im äußersten Norden Skandinaviens interessiert“, so eine Rezension im WDR. „Ein zarter Hauch von Magie übertupft den Realismus wie frischer Puderschnee matschige Rentierspuren“, schrieb die FAZ dazu. Und im „stern“ war zu lesen: „Spannend: Ann-Helén Laestadius erzählt in ,Das Leuchten der Rentiere‘ vom Leben am Polarkreis und von strukturellem Rassismus.“

Wieweit Ann-Helén Læstadius mit dem schwedischen Botaniker und evangelischen Prediger Lars Læstadius (1800 – 1861) zu tun hat, weiß ich nicht. Dessen Mutter war Sámi; er wuchs in deren Land auf. Auf ihn führt sich die auch in Norwegen bekannte Bewegung der sehr gläubigen Laestadianer zurück.


Eckart Roloff