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Hier wird erklärt, wie Norwegen seine Erfolge im Skisport schafft

von Eckart Roloff 

 Es gab Zeiten, da schauten die, die als deutsch-norwegisch Interessierte sehr auf den Wintersport achteten, besonders gern zu, was das Fernsehen dazu brachte. Das war ja nicht wenig. Das Zuschauen versprach einen speziellen Vorteil: Oft waren NorwegerInnen ganz vorn dabei, oft aber auch Deutsche. Man hatte also unabhängig von der Nation einen fast garantierten Grund zur Freude.

Das hat sich etwas geändert. Im Winter 2020/2021 schafften es Deutsche nur noch ab und zu auf die ersten Plätze, Norwegen jedoch sehr häufig. Dazu ein Beispiel: Bei der Nordischen Ski-WM von Oberstdorf holte das Land nicht weniger als 13 von 24 Goldmedaillen, Deutschland lediglich zwei (im Skispringen). Bei der WM in Lahti vor vier Jahren war es noch so, dass Norwegen siebenmal ganz vorn war. Deutschland sechsmal.

Woher kommt solch eine Entwicklung, solch ein Unterschied zwischen lille Norge und Deutschland mit seiner viel größeren Bevölkerung, ein Unterschied, der ja auch für die alpinen Sportarten und Biathlon gilt? Eine Antwort darauf gibt der Sportjournalist Lars Becker, der seit Jahren für viele Redaktionen unterwegs ist. Sein richtig gewähltes Schlüsselwort: friluftsliv.

Um den 10. März 2021 herum war in mehreren deutschen Zeitungen sein Beitrag dazu zu lesen. Becker zitiert den deutschen Langlauf-Bundestrainer Peter Schlickenrieder mit diesen Sätzen: „In Norwegen hat der Wintersport eine ganz andere Bedeutung als hierzulande. Während in Deutschland die Sportstunden wegen der Corona-Pandemie gestrichen werden, gibt es in Norwegen sogar ein Schulfach mit dem Namen, ‚Friluftsliv‘, übersetzt, Leben in der freien Natur‘. Das ist in Norwegen eine Lebenseinstellung.“

 Richtig. Das ist nicht ganz neu. Nur erklärt das Schulfach allein noch nicht die vielen internationalen Erfolge, und die wegen Corona gestrichenen Sportstunden haben nichts mit den wenigen Spitzenplätzen in Oberstdorf zu tun. Es geht um mehr, wie Becker schreibt: „Friluftsliv gehört in den ersten zehn Jahrgangsstufen zum festen Programm und soll das sinnliche Erleben der freien Natur fördern.“ Mit dieser Folge: „Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass die Zahl von jugendlich Nordisch-Wintersportlern in dem Land mit nur 5.4 Millionen Einwohnern wesentlich höher ist als in Deutschland.“

Norwegen schöpft also aus einem beeindruckenden Reservoir. Der DSV-Fachmann Horst Hüttel sagt dazu: „In Norwegen starten 240 Skispringer bei einem nationalen Wettbewerb, davon können wir nur träumen.“ Und im Langlauf „ist das Nachwuchsangebot noch viel größer“, so Becker, „was den Konkurrenzdruck erhöht und die Leistung fördert.“ Zudem gebe es in Norwegen mehr Schnee – und für längere Zeit.

Für Becker steht fest, dass „die Norweger auch trainingsmethodisch und wissenschaftlich die früher dominanten Deutschen längst eingeholt und hinter sich gelassen haben“. Und noch etwas: die sehr wichtige Sache mit dem Skimaterial, mit dem Schleifen und Wachsen.

Auch da sind die Norweger weit vorn, so sehr man sich bei uns bemüht, gut zu arbeiten und keine Fehler zu machen. Das ist ein Handwerk, eine extreme Tüftelei, vielleicht gar eine Wissenschaft für sich; sie kann über Sekunden entscheiden - und zwar viele Sekunden.

Zum Schluss seines Artikels kommt bei Becker der Chefcoach der deutschen Kombinierer zu Wort, Hermann Weinbuch. Er war in diesem Metier früher selbst sehr oft vorn dabei und sagt: „Wir werden unsere Ansprüche in Sachen deutsche Erfolge künftig zurückschrauben müssen.“

Sicher, das ist eine Möglichkeit des Reagierens, fast kurz vor dem Aufgeben und Hinnehmen. Eine andere wäre es, sich (noch) mehr anzustrengen und neue Ziele anzupeilen. Zugegeben, es gibt wichtigere Dinge als Medaillen in Massen. Am besten, auch wir nehmen wir uns ein neues Ziel vor: Gern beim Skisport zuschauen, egal wer gewinnt.                                                       

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Hinweis: Im „dialog“ Nr. 47 vom Dezember 2015 war zum Thema Friluftsliv der nachfolgende Text zu lesen, eine Rezension zum Buch „Friluftsliv – ein norwegisches Phänomen“.

Friluftsliv – was ist das?

Ein norwegisches Phänomen wird vorgestellt, in Theorie und Praxis

Annette R. Hofmann, Carsten Gade Rolland, Kolbjorn Rafoss und Herbert Zoglowek: Friluftsliv - ein norwegisches Phänomen.
Münster, Waxmann 2015. 197 Seiten, 34.90 Euro.

Tja, was ist friluftsliv, sehr wörtlich übersetzt Freiluftleben? „Eine deutsche Übersetzung gibt es nicht wirklich“, ist im Vorwort dieses Buches zu lesen. Diese könne es auch gar nicht geben, „da friluftsliv etwas spezielle Skandinavisches ist“. Und: „Die Bezeichnungen Freiluftleben oder Leben im Freien treffen zwar zu, wirken aber holprig.“ So ist es auch mit dem quasi akademischen Ausdruck Erlebnispädagogik. Also greift man zum Englischen, zu Wendungen wie Outdoor Actitivities und Outdoor Adventure. Ein bisschen besser, anschaulicher, passender mag das sein.

Wie auch immer, dieses Buch klärt gründlich und kompetent über sein Thema auf und damit über eine „Lebensphilosophie in Theorie und Praxis“, wie es im Untertitel heißt.

Ein Quartett aus Kennern hat sich zusammengetan, das zu leisten: mit deutschem, norwegischen und polnischen Hintergrund; es wirkt gemeinsam an der Arctic University of Norway mit den Standorten Tromsø, Alta und Hammerfest (jetzt so genannt nach Fusionen etwa mit der eigentlichen Universität Tromsø und nordnorwegischen Hochschulen). Es geht um eine wissenschaftliche Darstellung samt Fußnoten und höchst umfangreichem Literaturverzeichnis. Bilder werden auch geliefert – bei einem solchem Thema höchst willkommen, ja unausweichlich.

Beschrieben wird ein „bewegungskulturelles Phänomen“ mit pädagogischen Begleitern; berichtet wird, was man in welcher Natur und zu welchen Jahreszeiten unternehmen kann. Da dreht es sich viel ums Angeln und Jagen, ums Zelten und Kochen, um Lagerfeuer und Hundeschlitten, auch ums Eisangeln, Kajakfahren und Paddeln, ums Skiwandern und, etwas deftiger, um Schneehöhlen und Iglus. Wie sollte man das planen (so gut es eben geht), was hat man davon, was lernt man dabei, welche Risiken und Gewinne gibt unter der Rubrik friluftsliv?

Weitere Stichworte sind Identitätsentwicklung, Naturverständnis; ganzheitliches Erkennen, soziales Lernen, Förderung der Kreativität, Öffnung der Persönlichkeit und vieles mehr ... Ja, das Leben draußen, ohne den gewohnten Schutz, mit unsicherer Sicherheit und weg von Routinen, das ermittelt viel für den Alltag danach.  

Laura Münster